Seid ihr schon agil?
Agilität ist immer noch ein grosses Buzzword in der Leadership- und Organisationsentwicklung. Was aber bedeutet Agilität genau (oder eben ungenau!) und wo können wir von agiler Haltung und agilen Methoden profitieren? Und wo sind allenfalls Fallen vergraben, die, Agilität vortäuschend, Machtverhältnisse in Organisationen beeinflussen können?
Die sich in rasendem Tempo ändernde Welt, die Komplexität der Anforderungen an Privatpersonen, aber auch an Unternehmen, das Unvorhersehbare – all das schreit gewissermassen nach neuen Methoden und vor allem nach einer veränderten Haltung gegenüber Veränderungen. Führen mit Jahreszielen? Absurd, weil die Ziele immer schon veraltet sind, wenn man sich darauf geeinigt hat. SWOT-Analysen? Sind wir Hellseher oder was? Die Kundin ist Königin? Mehr denn je, denn die unerschöpfliche Auswahl an Produkten und Dienstleistungen im Online-Markt ist auf ihrer Seite.
Vor allem grössere Unternehmen und öffentliche Institutionen bewegen sich in der sich fliessend verändernden Umgebung wie Riesendampfer, die, einmal auf Kurs, nur unerträglich langsam ihre Richtung ändern können. Deshalb raus aus den starren organisatorischen Einheiten in neue Formen der Zusammenarbeit. Kleine und mehrheitlich autonome Zellen sollen ermöglichen, Neues nicht nur zu stemmen, sondern vorauszudenken, zu erahnen, mitzunehmen. Diese geforderte Wendigkeit, oder eben Agilität, hat eine Sache radikal im Zentrum: die Kundenorientierung. Alles was nicht zur Wertschöpfung beiträgt oder diese verzögert, fällt weg.
Agilität bedient sich verschiedener Methoden, die ursprünglich aus der Softwareentwicklung oder dem Lean Management stammen. Agilität bedeutet aber nicht einfach der Einsatz solcher Methoden (Scrum, Design Thinking etc.), sondern bedingt zunächst starke Persönlichkeiten und klare Rollen. Agilität erfordert bei aller Wendigkeit Klarheit und Ordnung und entsteht nicht einfach durch das Entfernen von Hierarchiestufen. Führung in einem agilen Team heisst auch maximale Kundenorientierung gegenüber den Teammitgliedern. Das Verhalten gegenüber den internen Kunden muss dem Anspruch und dem Niveau des Verhaltens gegenüber den externen Kundinnen entsprechen! Dies ist in traditionellen Organisationen bei weitem nicht die Regel. Man denke da beispielsweise an den Arzt, der von seinen Patienten und Patientinnen als zuwendend geschätzt wird, seine unterstellten Mitarbeitenden aber anschreit und kleinmacht. Oder an die Chefbeamtin, die in der Politik Kundenorientierung verspricht und ihr eigenes Team nicht zu Wort kommen lässt.
Die Autoren Braun und Krauss vergleichen Agilität mit einem Fahrrad. Das eine Rad dreht unaufhörlich zwischen den Fragen „Wer ist mein Kunde?“ – „Welches Bedürfnis hat mein Kunde?“ – „Wie kann ich das Bedürfnis bestmöglich erfüllen?“, das andere Rad zwischen den Aktionsschritten „Tun“ – „Überprüfen“ – „Anpassen“. Und deshalb ist die oft gestellte Frage: „Sind wir schon agil?“ absurd, weil man nie agil ist, sondern es zum Wesen der Agilität gehört, nie anzukommen.
Das tönt doch alles wunderbar und einleuchtend. Wo aber sind denn nun die Fallen vergraben?
Überforderung: Nicht für alle Menschen ist strukturarme Arbeit gut. Arbeitsverhältnisse, in denen Arbeitszeiten, -orte und stabile Führungsverhältnisse wegfallen, können zu Überlastung, Überforderung oder auch zu Stillstand führen.
Wegfall von Macht: Gerade die Führungskräfte selbst, die agile Arbeitsformen umsetzen sollen, geraten in Konflikt. Verlieren sie nun an Einfluss? Was müssen sie sich vom Team alles sagen lassen? War das bisschen Feedback im bisherigen Mitarbeitergespräch nicht genug? Auch wenn Führungskräfte selbst von einer agileren Arbeitsumgebung profitieren könnten, kann es ihnen schwerfallen, die bisherige Position loszulassen, ohne bereits in einer neuen Welt Erfahrungen gemacht zu haben.
Pseudoführung ohne Kompetenzen: In letzter Zeit ist mir in mehreren Coachings von Kundinnen aufgefallen, dass sich unter dem Titel Agilität neue Karrierehindernisse für Frauen und Ungleichstellung verbergen lassen. Ihnen wurden Positionen agiler Teamführung angeboten, ohne dass sie die zugehörigen Ressourcen, klare Entscheidungsprozesse und Kommunikationswege erhalten haben. „Mach mal, setz um. Du darfst aber nicht entscheiden und mehr Lohn gibt es für die Verantwortung auch nicht.“ Deshalb ist es unabdingbar, vor der Übernahme einer agilen Führungsfunktion klare Rahmenbedingungen einzufordern! Ohne diese findet nicht Agilität, sondern Chaos oder sogar Machtmissbrauch statt.
Agilität als Beschäftigungsprogramm für die Human Resources (HR): Genauso wie die bis vor kurzem beliebten umfassenden Kompetenzmodelle sind auch agile Methoden oft einzig auf Papieren und in Weiterbildungen des HR zu finden. „Macht mal was mit agil.“ lautet der Auftrag an das HR, während sich die oberen Führungsetagen selbst keinen Deut darum scheren und ihre bisherigen Rollen und Einflussgebiete bewahren.
Literatur zum Thema:
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