ECHT AUTHENTISCH?
Wenn in meinen Workshops und Coachings der Umgang mit Machtspielen oder geschicktes Verhandeln und Positionieren in hierarchischen Organisationen thematisiert werden, stellen Teilnehmende, meist Frauen, folgende oder ähnliche Fragen:
Bin ich, wenn ich diese Taktiken anwende, noch ich selbst?
Kann ich meine Persönlichkeit behalten?
Bin ich noch eine Frau oder verhalte ich mich zu «männlich»?
Die Psychologie geht auch heute noch davon aus, dass unsere Persönlichkeit vor allem durch die Ausprägung von fünf Faktoren, den Big Five (Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit, Neurotizismus), geformt ist. Im Gegensatz zu früher, als man noch annahm, dass die Entwicklung der Persönlichkeit nach dem 30. Lebensjahr abgeschlossen ist, zeigen neuere Studien, dass sich diese auch danach noch weiterentwickeln und verändern kann. Wir gehen also nicht mit einer fixen und dazu noch «weiblichen» oder «männlichen» Persönlichkeit durchs Leben, sondern bleiben glücklicherweise anpassungs- und entwicklungsfähig. Was sicherlich nicht zu unserer Persönlichkeit gehört, sondern zumindest heutzutage meist von erfolgreichem Marketing bestimmt oder kulturell geprägt ist und teilweise auch durchaus unserer freien Wahl entspringt, sind persönlicher Geschmack inklusive Kleider- und Stilfragen. Glaubenssätze, die wir verinnerlicht haben, zum Beispiel in Bezug auf Gesundheit, Geschlechterrollen oder Geld, haben wir häufig aus unserer Familie oder der uns sonst prägenden Umgebung während Kindheit und Jugendzeit mitgenommen. Frauen, die meinen, sie würden durch die Aneignung zusätzlicher kommunikativer Kompetenzen und einen äusserlichen Stilwechsel ihre Persönlichkeit verlieren, können also beruhigt sein. Sie flicken nicht an ihrer „Persönlichkeit“, sondern erweitern vielmehr ihr erworbenes Repertoire.
Der Mensch ist ein soziales Wesen und füllt in einer Art Bühnenspiel seine sozialen Rollen aus. Dazu gehören auch kulturelle Rechte und Pflichten. Wenn wir davon ausgehen, dass wir uns immer in einer bestimmten Rolle mit einem zugehörigen sozialen Status bewegen, so bedeutet das auch, dass wir unser Verhalten diesem meist unbewusst anpassen. Wir stehen morgens auf, sind augenblicklich «Mutter», «Vater», «Partnerin oder Partner», «Nachbarin» und etwas später «Mitarbeitender», «Chefin» und wenn wir unsere Eltern besuchen – schwupps! – wieder «Kind». Wenn wir nun die Rollen im beruflichen Rahmen bewusst ausfüllen und gestalten, bedeutet das nicht, dass wir nicht mehr «echt» oder «authentisch» sind, sondern wir verhalten uns in der Regel lediglich professionell.
Der Begriff der «Authentizität» ist eines der grossen Modewörter, die heute verwendet werden, um moderne Führung zu beschreiben. Und solange damit gemeint ist, dass wir nicht gekünstelt oder unglaubwürdig wirken, ist Authentizität – insbesondere in Zeiten von «Fake News» – ein unverzichtbarer Bestandteil guter Führung. Missverstanden hingegen kann das Konzept «Authentizität» problematisch sein. Stellen Sie sich vor, Sie haben als Führungsperson einen schwierigen und unbeliebten Entscheid zu kommunizieren. Sie fühlen sich schrecklich dabei und tragen den Entscheid eventuell auch nicht wirklich mit. Sie stellen sich nun ganz und gar «authentisch» vor Ihr Team und sagen: «Ich finde das alles auch total daneben, aber die da oben wollen das so». Oder Sie lassen sich Ihre Angst oder Verzweiflung ungeschminkt vom Gesicht ablesen, statt die nötige Ruhe und Zuversicht auszustrahlen. Das ist zwar menschlich, aber nicht im guten Sinne authentisch, sondern unprofessionell. Professionelle Kommunikation ist eben nicht «Alltagskommunikation».
Als ich vor kurzem das übrigens sehr empfehlenswerte Buch This Is Marketing von Seth Godin gelesen habe, sind mir zum Thema Authentizität ein paar treffende und durchaus provokative Aussagen ins Auge gesprungen, die ich Ihnen hier nicht vorenthalten möchte:
Wenn du authentisch sein musst, um deine beste Arbeit leisten zu können, bist du nicht professionell, sondern ein glücklicher Amateur.
Es braucht sehr wenig Energie und Mut authentisch zu sein.
Wenn dein authentisches Selbst ein «egozentrisches Arschloch» ist, lasse dieses Selbst bitte zu Hause!
Godin unterscheidet zwischen Authentizität und emotionaler Arbeit, was ich nun wirklich sehr spannend und erhellend finde. Emotionale Arbeit heisst, mit einem Lächeln erscheinen zu können, wenn man innerlich winselt. Oder auch den Drang zu unterdrücken, auf einen Menschen loszugehen, weil man weiss, dass sich mit ihm oder ihr ernsthaft und angemessen zu beschäftigen, sein oder ihr Verhalten und Leistung positiv beeinflussen wird.
Das Ziel ist nicht, die Arbeit zu personalisieren, sondern sich professionell zu verhalten.
Über Seth Godin und Marketing mehr in diesem Blogpost.
Literatur zum Thema:
Godin, Seth. 2018. This Is Marketing. Penguin Books.
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