Endlich Zeit!

 
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Kairos und Chronos

Die alten Griech*innen kannten zwei Begriffe für Zeit: Kairos und Chronos.

Kairos steht für den richtigen, den günstigen Moment. Kairos steht auch für Zeit im qualitativen Sinne. Chronos hingegen meint sequenzielle Zeit, die sich quantitativ messen lässt.

Kairos und Chronos sind nicht nur Begriffe, sie waren auch zwei Götter im olympischen Götterhimmel. Chronos, der bekanntere der beiden, war offiziell Gott der Zeit und lässt sich genealogisch in die weit verzweigte Götterfamilie einordnen. Kairos gewann erst an Bedeutung, als ausgehend von einer Statue und einem Altar, ein Kairos-Kult entstand, der ca. 300 v. Chr. bis in die oströmische Zeit bestand. Kairos wurde zunehmend auch mit dem Götterboten Hermes und mit Tyche, der Göttin des Schicksals, in Verbindung gebracht.

Was also ist nun Kairos, die Zeit, die mit günstigen Momenten, Tempo, Entscheidungen und Schicksal zu tun hat? Kairos ist der Moment, den man nutzen sollte, um eine wichtige Entscheidung zu treffen. Sie ist die günstige Gelegenheit, die es am Schopf zu packen gilt. Ist dieser Moment verstrichen, kommt er nicht wieder. Sein Wesen erklärt Kairos in einem “Interview”, das Poseidippos von Pella im 3. Jahrhundert v. Chr. niederschrieb:

“Wer bist du?
Ich bin Kairos, der alles bezwingt!

Warum läufst du auf Zehenspitzen?
Ich, der Kairos, laufe unablässig.

Warum hast du Flügel am Fuss?
Ich fliege wie der Wind.

Warum trägst du in deiner Hand ein spitzes Messer?
Um die Menschen daran zu erinnern, dass ich spitzer bin als ein Messer.

Warum fällt dir eine Haarlocke in die Stirn?
Damit mich ergreifen kann, wer mir begegnet.

Warum bist du am Hinterkopf kahl?
Wenn ich mit fliegendem Fuss erst einmal vorbeigeglitten bin, wird mich auch keiner von hinten erwischen so sehr er sich auch bemüht.

Und wozu schuf Euch der Künstler?
Euch Wanderern zur Belehrung.”
(zitiert in Gründel 1996)

Wir verzweifeln heute mehr denn je an Chronos. Unaufhaltsam tickt die Uhr, wir sehen unser Leben vorbeirauschen, sind schon wieder ein Jahr älter. Wir messen unsere Arbeitszeit und sehnen uns nach mehr Zeit zur Musse (schon wieder die alten Griech*innen!) und füllen diese wiederum zu oft mit messbarer Leistung. Laufen auf Zeit, Erklettern von Höhenmetern, Reisen im Schnelltempo. Wie oft höre ich in meinen Workshops und Coachings den Seufzer: “Ich müsste einfach mehr als 24 Stunden pro Tag zur Verfügung haben …”

Deshalb mein Vorschlag: Nutzen wir Kairos, um Chronos zu schlagen. Bleiben wir ruhig und achtsam, damit wir die Gelegenheit bei Kairos’ Schopf packen können. Entscheiden wir mutig, wenn der Moment gekommen ist. Hören wir auf zu denken, dass wir später alles noch tun können, was unser Leben reich macht. Zum Beispiel, wenn die E-Mails endlich mal alle abgearbeitet sind. Jeder verstrichene Moment kommt nie wieder. Aufschieben von Wichtigem ist eine Hochrisikostrategie.