Ohne Kanten

 

“Sie polarisiert.” So wurden in meiner Zeit als HR-Leiterin oft Menschen, vor allem Frauen, beschrieben, die nicht “ganz einfach” waren. Machen wir uns nichts vor: Es gibt Mitarbeitende und Führungskräfte, die “schwierig” sind. Zum Beispiel weil sie keine Impulskontrolle haben. Oder weil sie denken, dass es gut sei, immer “direkt” zu sein und darunter verstehen, dass sie anderen respektlos “ihre Meinung” sagen dürfen.

Runde Menschen ohne Ecken und Kanten sind hingegen selten herausragend oder besonders leistungsstark. Sie passen sich an, halten mit ihrer Meinung hinter dem Berg und tragen so zu einem angenehmen Klima bei. Sie erfüllen damit sehr wohl eine wichtige Rolle in ihren Teams. Sie bringen aber wenig voran und leisten somit keinen besonders grossen Beitrag zur Entwicklung der Organisation. Menschen mit Kanten ecken an mit ihrer Arbeitsweise, exponieren sich und missachten die eine oder andere Vorschrift. Sie haben den Mut, etwas liegen zu lassen, das ihnen im Moment unwichtig erscheint. Sie setzen auf ihre Stärken. Und Stärken sind - so Buckingham und Goodall im überraschenden Buch “Nine Lies About Work” - eben nicht Dinge, in denen man gut ist, sondern Aktivitäten, bei deren Ausübung man sich stark fühlt und exzellente Ergebnisse erzielt. Je mehr man von diesen Stärken einsetzen und zeigen kann, desto mehr tragen sie zum Arbeitsglück bei. Menschen aber, die entschieden auf eine Stärke setzen, wollen nicht an Standards gemessen werden. Sie wollen ihre Stärke nicht permanent ausgleichen müssen, um ein “rundes Profil” (wie grässlich!) zu entwickeln. Gerade letzteres wird aber durch die vor allem beim HR beliebten Kompetenzmodelle befördert. Ein Kompetenzprofil - gern dargestellt in einer Spinnennetzgrafik - sollte schliesslich nicht zu unausgeglichen sein. Also nicht über zu deutliche Spitzen und Kanten verfügen.

Menschen, die herausstechen, hohe Leistungen erbringen, etwas von bleibendem Wert erschaffen und auch nach ihrem Ausscheiden aus einer Organisation in Erinnerung bleiben, haben Ecken und Kanten. Sie sind vielleicht etwas mürrisch und introvertiert, aber brillante Denkerinnen. Oder etwas laut und allzu spontan und darum in der Lage, Menschen zu überzeugen und zu begeistern. Am liebsten würde ich hier schreiben: “Lasst sie doch um Himmelswillen in Ruhe!”

Nun ist das leider nicht so einfach, weil es durchaus Grenzen der Selbstbezogenheit gibt, weil Teamarbeit von grösster Wichtigkeit ist, weil es Regeln des Respekts und Anstands gibt, die eingehalten werden müssen. Ist dies aber gegeben, wollen wir doch letzten Endes interessante Teams, die sich aus Menschen unterschiedlicher Ecken und Kanten zusammensetzen. Und die die Sozialkompetenz aufbringen, daraus ein leistungsfähiges Ganzes zu bilden. Eine Bubble voller Bubbles hingegen ist unglaublich uninteressant.

Reinhard Sprenger, Managementautor und Berater, hat seine bevorzugte Führungsperson einmal folgendermassen beschrieben:
“Habe einen kühlen Kopf, arbeitsame Hände, ein grosses Herz. And an edge!”

Ich will Kompetenzmodelle nicht per se schlechtreden. Ich war sogar einmal aktiv an der Entwicklung eines eben solchen beteiligt. Sie erfüllen ihren Nutzen aber hauptsächlich dort, wo sie entstehen: Als internes Ordnungsinstrument der Human Resources, aus dem sich alle wesentlichen Tools wie Stellenausschreibungen, Lohnzuweisungen, Beurteilungssysteme und Arbeitszeugnisse ableiten lassen. Immerhin praktisch.

Und zuletzt noch ein Wort an die Frauen unter den Lesenden dieses Blogposts:

Traut euch, eure Ecken und Kanten zu zeigen. Hört nicht auf Vorgesetzte, die euch sagen, ihr müsstet mehr lächeln. Hört genau hin, wenn es heisst, ihr sollt euer Profil abrunden.

Traut euch zu fordern. Ich habe in meiner ganzen Zeit als HR-Leiterin kein einziges Mal gehört, dass eine Führungsperson und ein HR-Mensch jemanden eingestellt oder befördert haben mit der Begründung: “Sie ist eine so Nette und hat keine Lohnforderungen gestellt. Nehmen wir doch die Liebste und die Billigste!”

literatur zum Thema

workshops