PROKRASTINIEREN – GEWUSST WIE
Sie kennen das bestimmt: Sie sitzen am Schreibtisch oder mit dem Laptop auf dem Sofa und machen sich eben daran, eine wichtige, aber eventuell unliebsame oder schwierige Aufgabe anzupacken. Es ist gut möglich, dass diese schon lange auf Ihrer To-do-Liste steht und immer wieder neuen, dringenderen Aufgaben weichen musste oder durfte. Aber heute ist der Tag, an dem Sie das durchziehen werden! Da fällt Ihr Blick auf die Zimmerpflanze, die schon lange nicht mehr gegossen wurde, ein Klingeln zeigt eine eingegangene E-Mail an oder es ist Ihnen gerade in den Sinn gekommen, dass ein Kaffee vor der Inangriffnahme der Aufgabe doch noch ganz anregend wäre. Und schon sind Sie mittendrin im Prokrastinieren.
Der Zungenbrecher „Prokrastinieren“ stammt aus dem Lateinischen und setzt sich aus pro (für) und crastinus (morgig, Adj. zu Morgen) zusammen und meint also „für morgen“, sinngemäss „auf morgen verschiebend“. Es kann nun eine Erleichterung sein, wenigstens einen intellektuell anmutenden Begriff für ein Phänomen zu haben, das im Volksmund gern „Aufschieberitis“ genannt wird. Doch damit allein kommt man der Untugend auch nicht bei.
Vor kurzem erschien im Tagesanzeiger ein Artikel von Christian Fichter zu diesem Thema unter dem Titel „Wer aufschiebt, wirft das Leben weg“. Der etwas dramatisch scheinende Text greift ein paar wesentliche Hintergründe der Prokrastination auf, nämlich das menschliche Bedürfnis nach unmittelbarem Lustgewinn, die Notwendigkeit, den mit dem Auftrag verbundenen negativen Gefühlen auszuweichen, oder auch die Fülle von Informationen und Ablenkungen, die heutzutage auf Menschen einprasseln. Gegen Prokrastination sollen nun, so Fichter, die ewig gleichen aber durchaus wirksamen Techniken aus dem Selbst- und Zeitmanagement wie Schreibtisch aufräumen, E-Mailalarm abstellen, Ziele definieren und Pausen- und Pufferzeiten einhalten helfen. Das tönt gut, nur wissen wir alle, dass diese Techniken trotz besuchter Zeitmanagementseminare oder entsprechender Lektüre bei vielen Menschen kaum zur Anwendung kommen. Joseph Ferrari, Professor für Psychologie und bekannter Aufschiebeforscher meinte einmal dazu: „Einem Aufschieber zu sagen, er soll einfach einen Plan machen, das ist, als würde man einem Depressiven sagen, er soll einfach mal fröhlicher sein.“
Wie wäre es denn, das Ganze einmal auf den Kopf zu stellen und Prokrastination bewusst als nützliche Technik einzusetzen? Man könnte sich zum Beispiel folgende Fragen stellen:
Will ich die Aufgabe nicht angehen, weil ich den Sinn darin nicht erkennen kann?
Gehe ich die Aufgabe nicht an, weil ich das, was ich tun sollte, nicht gut kann?
Wer könnte das besser und schneller als ich? Delegieren?
Komme ich durch die Aufgabe mit jemandem in Kontakt, den ich fürchte oder die ich nicht mag?
Würde ich die Aufgabe heute auch noch auf eine neue To-do-Liste schreiben?
Das Durchgehen dieser Fragen kann mich zu spannenden Erkenntnissen führen, aus denen man durchaus konkrete Handlungen ableiten kann: Sollte ich nicht besser mit meinem oder meiner Vorgesetzten noch einmal über den Auftrag sprechen? Kann die Aufgabe jemand anderes übernehmen? Fehlen mir noch Informationen oder Wissen, um sie zu erledigen? Delegiere ich alles, was möglich ist? Muss ich ein zwischenmenschliches Problem angehen, bevor ich mich der Aufgabe widmen kann? Ist die Aufgabe überhaupt wichtig, beziehungsweise ist sie nach all der aufgeschobenen Zeit immer noch relevant?
Letzterem Punkt nimmt sich der amerikanische Autor und Redner Rory Vaden an. Er hat ein interessantes Selbstmanagementmodell entwickelt, das sich das Phänomen der Prokrastination zu Nutzen macht.
Sein Modell beschreibt eine Aufgabenanalyse in folgenden Schritten:
Was kann ich alles eliminieren?
Was von dem, was übrig bleibt, kann ich automatisieren?
Was von dem, was übrig bleibt, kann ich delegieren?
Worauf von dem, was übrig bleibt, kann ich mich konzentrieren -> TUN
Der Rest wird prokrastiniert bis er irgendwann wieder oben im Prozess landet …
Vaden betont, dass Menschen zu oft gedankenlos drauflosarbeiten, was dazu führt, dass vor allem Unwichtiges getan wird und Wichtiges liegen bleibt. Am Allerwichtigsten aber wäre es, zunächst Zeit zu planen, in der man über Eliminierung, Automatisierung und Delegation von Aufgaben, in dieser Reihenfolge, nachdenken kann. Genau diese drei Schritte werden aber aus scheinbarem Zeitmangel immer wieder vernachlässigt, obwohl gerade sie zu längerfristigem Zeitgewinn führen könnten. Selbst die im Selbst- und Zeitmanagement gelobte Priorisierung von Aufgaben nützt nichts, wenn diese vor diesen Schritten geschieht, da ja nun gleichsam Aufgaben mitpriorisiert werden, die gar nicht erst angegangen werden sollten. Was zum Schluss bleibt und eine Zeit lang vor sich hin prokrastiniert, erweist sich am Ende interessanterweise nicht selten als unnötig oder zumindest als nicht mehr aktuell. Und kann dann eliminiert, automatisiert oder delegiert werden.
Noch grundlegender als Vaden gehen es äusserst erfolgreiche Zeitgenossen, wie Tim Ferriss (the 4-Hour Workweek) oder etwa Richard Branson (Unternehmer, Virgin Group) an: Ihrer Einschätzung nach gehören To-do-Listen verboten. Lieber formulieren sie maximal drei bis fünf Jahresziele und fragen sich jeden Morgen: Was kann ich heute für meine Ziele tun? Kleinkram gehört nicht auf eine Liste, sondern kommt direkt in die Agenda. Tim Ferris meinte sinngemäss sogar dazu: Leute, die ihren Tag mit Kleinigkeiten auffüllen und diese emsig abarbeiten, sind nicht fleissig, sondern faul. Sie lassen ihr Leben verstreichen, ohne das, was ihnen wirklich wichtig ist, anzugehen. Das ist, vorausgesetzt wir haben nur ein Leben, eine Hochrisikostrategie.
Radikal und vielleicht elitär. Aber bedenkenswert!
Link zu TED Talk von Rory Vaden: