Der sogenannte anchoring effect wurde vom Nobelpreisträger Daniel Kahnemann und seinem israelischen Kollegen Amos Tversky, einem Pionier der Kognitionswissenschaft, bereits in den Siebzigerjahren erforscht und beschrieben. In mehreren Experimenten konnten sie nachweisen, dass Menschen von einer bewusst in den Raum gestellten Zahl beeinflusst werden und zwar so, dass sich ihre Wahrnehmung von Umwelt und Realität verbiegt (bending reality). Eines der von ihnen durchgeführten Experimente funktionierte folgendermassen:
Sie erteilten einer Gruppe von Studierenden den Auftrag, eine schnelle Schätzung des Ergebnisses folgender Rechnungen abzugeben. Der Zeitrahmen war so gesetzt, dass ein effektives Ausrechnen nicht möglich war:
1x2x3x4x5x6x7x8=
8x7x6x5x4x3x2x1=
In beiden Fällen lagen die Studierenden mit ihren Einschätzungen weit daneben, nämlich bei 512, bzw. 2 250, während das korrekte Resultat 40 320 gewesen wäre. Interessant aber war vor allem, dass die Reihenfolge der Zahlen das jeweilige Resultat stark beeinflusste. Die mit der kleinsten Zahl beginnende Rechnung verleitete sie dazu, eine wesentlich kleinere Zahl zu nennen als die mit der grössten Zahl beginnende. Dieser Effekt konnte in vielen vergleichbaren Experimenten bestätigt werden, das heisst die plötzlich im Raum stehende Zahl beeinflusste alle folgenden genannten Zahlen, der Zahlenraum wurde gleichsam definiert.
Was bedeutet dies jetzt für Verhandlungen? Stelle dir vor, du gehst in eine Lohnverhandlung und wirst nach deiner Gehaltsvorstellung gefragt. Nenne nun die erste Zahl, wirf den Anker. Du sagst beispielsweise 9 000 Brutto monatlich. Der Vertreter oder die Vertreterin des möglichen Arbeitgebers hätte durchaus 10 000 bezahlen können, stimmt aber deinem Vorschlag zu oder gibt sich sogar grosszügig und sagt: „Bei Ihrem Erfahrungsrucksack sind wir durchaus bereit, 9 200 zu bezahlen.“ Entweder du bist nun an dieser Stelle erfreut oder du realisierst, dass du unter deinen Möglichkeiten verhandelt hast.
Wenn du bei einer Verhandlung rein nach der Ankertheorie vorgehen würden, müsstest du eigentlich, wie im obengenannten Beispiel, den ersten Anker werfen, wozu auch von vielen Verhandlungsexpertinnen und -experten geraten wird. Diese verkennen aber, dass sich die meisten Menschen, die um ihren Lohn oder um einen Preis verhandeln, nicht getrauen, einen starken Anker zu werfen, Frauen noch weniger als Männer. Hättest du im obengenannten Beispiel 11 000 gesagt, wäre es durchaus möglich gewesen die 10 000 oder sogar mehr zu erhalten. Zudem hätte dein Gegenüber dich herunterhandeln können, was ihm oder ihr das Gefühl gegeben hätte, „gewonnen“ zu haben.
Bist du also mutig genug, einen starken Anker zu werfen, nenne die erste Zahl. Bist du das nicht, tu besser, was andere Spezialisten und Spezialistinnen raten: Du spielst den Ball zurück und fragst, was denn das Angebot der Gegenseite sei.
Hier wiederum läufst du Gefahr, dass du ein zu tiefes Angebot erhältst. Weisst du aber um den Ankereffekt, lasse dich nicht beirren und lege nun im Vorfeld ermittelte, objektive Zahlen vergleichbarer Löhne aus deiner Branche oder ähnlichen Funktionen vor.
Schau doch einmal in dieses aufschlussreiche und amüsante Video zu Lohnverhandlungen:
Ramit Sethi und Susan Wu über Verhandlungen mit einem gespielten Beispiel zur Technik „den Ball zurückgeben“
Ich kann dir nicht garantieren, dass du mit einer guten Vorbereitung in jedem Fall deinen Wunschlohn erhältst, aber ich garantiere dir, dass du OHNE Vorbereitung nichts dazugewinnst!